Wer sich mit Neo-Tantra beschäftigt hat, wird einige Parallelen zur energetischen Liebe feststellen.
Durch Neo-Tantra hat es in den letzten zwanzig Jahren eine neue Offenheit in der Betrachtung der Sexualität gegeben. In Büchern und Workshops wurde die tatsächliche Qualität der Sexualität in
einer Direktheit zum Thema, die zuvor nicht möglich schien. Die Kritik an der nur an Erregung und Befriedigung sowie einer männlich-emotionaellen Form der orgastischen Entladung
interessierten Sexualität nahm hier ihren Anfang, und insofern kann ich im Neo-Tantra den Beginn der zweiten sexuellen Revolution erkennen.
Dennoch sehe ich darin, wie im Neo-Tantra mit Sexualität und mit Spiritualität umgegangen wird, große Probleme. Es erscheint mir inzwischen als ein dickes Knäuel aus mystischem Halbwissen,
kritiklos übernommenen Meinungen von Gurus, falsch verstandenen Aussagen Wilhelm Reichs und unverhohlener spiritueller und sexueller Geschäftemacherei. Was ich als besonders problematisch sehe,
ist die Anwendung des Begriffs »Tantra« für die partnerschaftliche sexuelle Begegnung zweier Menschen, die in der Absicht geschieht, sich gegenseitig Nähe, Sinnlichkeit, menschliche Wärme und
dergleichen zu geben, also alle Aspekte der partnerschaftlichen sexuellen Liebe, die immer noch auf sexueller Lust, also auf Begierde beruht. »Tantra« ist jedoch ein Begriff aus dem Hinduismus
und Buddhismus, (er bedeutet »Gewebe«), der im asiatischen Kulturkreis eindeutig und ausschließlich für religiös-spirituelle Praktiken verwendet wird, die alles andere beabsichtigen als sexuelle
Befriedigung oder Erfüllung im persönlichen emotionellen Bereich. Es geht beim Tantra also immer um differenzierte religiöse Paktiken, zum Beispiel eine Yidam-Praxis im Buddhismus, die in jahre-
oder jahrzehntelang aufeinander aufbauenden Übungen die Verbindung zu einer Gottheit herstellten soll. Ein Yidam ist eine Meditationsgottheit, also ein Buddha oder Bodhisattva, zu dem der
Praktizierende eine besondere Beziehung entwickelt, und der ihn auf den Pfad der Erleuchtung führt und in dessen Buddhaland, also Himmel, er im nächsten Leben wiedergeboren wird. Die
Verwirklichung eines Yidams, über Rezitationen, Mantras, Visualisierungen und Opfer ist die vorherrschende Praxis im Vajrayana- (oder tantrischen) Buddhismus. Die Besonderheit des Tantra besteht
darin, dass alle menschlichen Erfahrungsebenenen in die spirituelle Praxis einbezogen werden – also auch Emotionen wie Lust, Wut, Gier und so weiter, die in konventionellen religiösen Praktiken
ängstlich mit Verboten und Geboten vermieden werden, wobei eben viel menschliche Energie nicht genutzt wird.
In den zwölf Jahren, in denen ich intensiv tantrische Praktiken gelernt und durchgeführt habe, ist es mir tatsächlich nie in den Sinn gekommen, die Praxis zum Gegenstand zwischenmenschlicher
sexueller Erfahrungen zu machen. Ich musste meine sexuellen Bedürfnisse nicht über pseudo-religiöse Rituale befriedigen, da ich fast immer eine Partnerin hatte, mit der ich meine sexuellen
Bedürfnisse leben konnte. Mir und anderen ernsthaft Tantra Praktizierenden war völlig klar, dass die sexuellen Tantra-Praktiken überhaupt nichts mit partnerschaftlicher Sexualität zu tun haben.
Tantra-Texte betonen immer wieder, dass es in der Praxis mit Geschlechtspartnern keine Form der sexuellen Sichauslebens ist, sondern eine Form kontrollierter Visualisation, die sich der
besonderen Entrückung der sexuellen Vereinigung bedient. Sie bleibt sehr fortgeschritten Yogis vorbehalten, die die Emanation des subtilen Körpers unter Kontrolle haben und die mystische Wärme
oder Energie erzeugen können, die von den Tibetern Dumo (gtum mo, candali) genannt wird. Wer diese Stufe noch nicht erreicht hat, darf nicht mit wirklichen Partnern praktizieren – und wer
trotzdem mit den tantrischen Sexualpraktiken experimentiert in dem Glauben, er praktiziere Tantra, der kann sich großen Schaden zufügen. Er mag vielleicht andere – und vor allem sich selbst –
blenden, aber es wird ihm nicht gelingen, die sexuelle Energie im Sinne des höchsten Yoga-Tantra zu nutzen.
Der Dalai Lama macht deutlich, dass nur der für die tantrischen Sexualpraktiken qualifiziert ist, der den Phänomenen des zyklischen Daseins gegenüber vollkommen unvoreingenommen ist:
»Die Wahrheit ist, dass man solche Praxiken nur anwenden darf, wenn keinerlei sexuelles Verlangen vorhanden ist. Die Voraussetzungen sehen ungefähr so aus: Wenn dir jemand ein Glas Wein und
ein Glas Urin, eine köstliche Speise und einen Teller Kot anbietet, musst du in einer Verfassung sein, dass du von allem essen und trinken kannst und es dich überhaupt nicht berührt, was du da
gerade zu dir nimmst. Dann, vielleicht, kannst du dich dieser Praxis widmen.«
Als man ihn bat, Lamas zu benennen, die seiner Meinung nach auf dieser Stufe waren, musste er zugeben, dass er keinen kenne. Er sagte, es gebe zwar die bekannte Geschichten von großen Lehrern
wie zum Beispiel Tilopa, die alles Haften am gewöhnlichen Denken überwunden hatten und sich daher sexuellen Praktiken widmen konnten, ohne sich selbst oder ihren Schülern zu schaden, doch seien
solche außergewöhnlichen Menschen sehr selten. (John Powers, »Religion und Kultur Tibets«, O. W Barth, 1998, S. 200 f.)
Ich hätte die entsprechenden Belehrungen und Anweisungen durchaus von meinem Lehrer bekommen können, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Aber eine Anwendung spiritueller Praktiken zum Zweck der
sexuellen Partnerschaft mit einer Frau – das wäre in hohem Maße unangemessen gewesen, und eine entsprechende Frage hätte bei Tenga Rinpoche, dem Tantra-Meister, dessen Schüler ich 12 Jahre lang
war, wohl eher zu einen Ausbruch von Heiterkeit geführt.
Es ist in der Szene des Tibetischen Buddhismus durchaus bekannt, dass es tibetische und auch westliche Lamas gibt, die sexuelle Riten als spezielle Verführungskünste nutzen, denn es mangelte nie
an westlichen Frauen in den buddhistischen Gruppen, die – besonders gegenüber den jungen tibetischen Mönchen – deutliches Interesse für diese Art esoterischer Erotik oder erotischer Esoterik
zeigen. Mir taten diese Menschen – sowohl die Lamas als auch ihre Gespielinnen – immer leid, weil sie offenbar nicht in der Lage waren, ihre echten sexuellen Bedürfnisse offen zu zeigen und zu
leben. Sie hatten es wohl nötig, eine pseudo-spirituelle Meta-Ebene zu nutzen, um zu Sex zu kommen, die dann zwischen den Menschen eine große Barriere bedeutete. Letztlich ist der Missbrauch für
alle Beteiligten offenbar, sobald die mystische Ebene, dass tantrischer Sex ein besonderer Segen sei oder schnelle Befreiung bedeute, ihre Faszination verliert. Es gab einige sehr hässliche
Skandale, an denen auch hohe Lamas wie etwa Trungpa Rinpoche, Sogyal Rinpoche und Kalu Rinpoche beteiligt waren. Diese Art des sexuellen Missbrauchs mit abhängigen Schülern und Schülerinnen hat
in der buddhistischen Gemeinschaft viel Vertauen zerstört, genauso wie die Eskapaden eines dänischen buddhistischen Führers, der sich im Fernsehen damit brüstete, mit über 500 seiner Schülerinnen
Sex gehabt zu haben. Der tibetische Buddhismus tut sich mit dem Verständnis von sexuellem Missbrauch und dessen Aufarbeitung noch schwerer als die katholische Kirche.
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